Wie wir unsere Workflows und Systeme für “Pay First” umgebaut haben

DEV SPIEGEL
7 min readJul 5, 2022

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Vor rund drei Jahren haben wir im SPIEGEL den Print-Online-Gemeinschaftsbetrieb gestartet und zwei getrennte Redaktionen und Unternehmen fusioniert — ein Mammutprojekt, das uns seitdem begleitet hat und weiter begleiten wird. Seither haben wir SPIEGEL ONLINE zu SPIEGEL.de umgestaltet, mit dem Relaunch Statamic als neues Content Management System eingeführt (zunächst für den Online-Betrieb), SPIEGEL+ als Erlössäule etabliert, unter Corona-Bedingungen unsere Arbeit sozusagen virtualisiert und das Magazin-Layout modernisiert. Vor rund sechs Monaten erreichten wir dann den nächsten grundlegenden Meilenstein: Wir stellten das gesamte Haus auf ein neues gemeinsames Planungs- und Produktionssystem für alle Kanäle um.

Das neue System ist die Voraussetzung dafür, dass alle Inhalte der SPIEGEL-Gruppe und der blauen Gruppe (manager magazin und Harvard Business manager) auf einer zentralen technischen Plattform konzipiert, bearbeitet und veröffentlicht werden können. Diese Reform haben wir zunächst anderthalb Jahre lang konzipiert, um dann weitere anderthalb Jahre an der Realisierung zu arbeiten und die Grundideen der Print-Online-Integration und unserer strategischen Ausrichtung auch strukturell in den technischen Systemen und den täglichen Workflows der Redaktion umzusetzen. Faktisch stellten wir dabei die Arbeitsweise des Hauses um und etablierten an vielen zentralen Stellen komplett neue Abläufe.

Der Gedanke klingt so gut wie einfach: Wir modernisieren die Technik, und alles läuft wie geschmiert. So leicht war es natürlich nicht. Damit eine Komplettreform von Workflows und Systemen so gelingt, dass unsere Leser:innen nichts davon merken, die Nachrichtenseite wie gewohnt gefüllt ist und alle gedruckten SPIEGEL-Produkte pünktlich erscheinen, mussten wir allen Kolleg:innen die Chance geben, die neuen Abläufe mitzugestalten. Eine so groß angelegte Reform kann nur gelingen, wenn von den Ressorts, dem Newsdesk und der Chefredaktion über die Gestaltung und Produktion bis hin zu den Verlagsabteilungen und der Technik alle mit- und an einem Strang ziehen. Der Umbau war umfassend im Wortsinn.

Klassischer Print-Workflow beim SPIEGEL: Über Jahrzehnte bewährt

Als Startpunkt dienten die bisherigen Prozesse und Abläufe. Dabei wurde schnell klar, wie groß und komplex die Aufgabe sein würde, die wir uns gestellt haben. Die Grafik zeigt einen im Kern jahrzehntealten Print-Workflow, der immer wieder justiert und ergänzt, aber nie grundlegend in Frage gestellt wurde. Dennoch: Er funktionierte, ebenso der Online-Workflow, der zwar in unserem Relaunch vor anderthalb Jahren verändert, aber noch nicht final mit Print zusammengedacht wurde. Es wurden lediglich Vorarbeiten erledigt.

Um die komplette Umstellung zu realisieren, mussten wir zunächst beide existierenden Workflows in ihrer ganzen Tiefe verstehen, um dann die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Personen an einen Tisch zu bekommen. Von Anfang an war uns im Sinne einer integriert arbeitenden Redaktion wichtig, dass Redakteur:innen, die Texte verfassen, im neuen Workflow nicht mehr unterscheiden müssen, ob sie jetzt für Online oder Print schreiben. Sie sollen einfach schreiben. Digital werden die Inhalte in jedem Fall veröffentlicht — ob auch in Print, kann früher oder später entschieden werden, ist aber für das System nicht mehr zentral.

Das klingt nach dem Grundprinzip „Digital First”, aber in Wahrheit ist es komplizierter. Schon aus rein pragmatischen Gründen können wir nicht alle Inhalte auf exakt die gleiche Weise be- und verarbeiten. Wir produzieren schlicht zu viele Artikel, um jedes einzelne Foto von unserer Bildredaktion feinjustieren oder jede geschriebene Silbe von der Dok verifizieren zu lassen. Trotzdem wollen wir bei vielen Optiken natürlich nicht auf eine professionelle Bearbeitung oder bei Texten auf die inhaltliche Prüfung verzichten. Deshalb müssen wir ständig Auswahlen treffen. Aber wie entscheidet man und setzt Prioritäten?

Als wichtige Leitlinie hat sich im Diskussionsprozess unsere „Pay First“-Strategie erwiesen, also der grundsätzliche Wachstumsfokus auf unser digitales Abo-Modell SPIEGEL+, dem sich viele Projekte unterordnen. Wir haben beim Neudesign der Workflows entschieden, Artikel in „Pay“ und „Nicht-Pay“ zu unterscheiden. Inhalte, für die Nutzer:innen bezahlen, müssen andere Workflows durchlaufen und anderen Ansprüchen genügen als kostenlos angebotene Texte — die aber nicht weniger wichtig und wertvoll sind, das sei explizit erwähnt. Zumal die Kategorisierung durchlässig ist. Inhalte, die zunächst als „Nicht-Pay“ geplant waren, können im Nachhinein noch „Pay“ werden (und in Ausnahmefällen auch andersherum).

Der neue Workflow ist grundsätzlich für alle Arten von Inhalten gleich, egal ob Nachricht, Interview, Reportage oder Storytelling. Je nach Artikeltyp und sich daraus ergebender Anforderung gibt es aber die Möglichkeit, einzelne Prozessschritte zu überspringen. Viele Interviews werden zum Beispiel nicht mehr voll-verifiziert, auch wenn sie hinter der Bezahlschranke stehen. Und bei Stücken, die juristisch unbedenklich sind, muss die Rechtsabteilung nicht zwingend eingebunden werden — obwohl sie im Standard-Workflow fest vorgesehen ist.

Neuer, integrierter Workflow für Print und Digital: Flexible Logik ohne Kanalgrenzen

Um an diesen Punkt zu kommen, haben wir tatsächlich alle bestehenden Abläufe und Systeme infrage gestellt: Was brauchen wir wirklich? Wofür brauchen wir es? Wo haben wir Optimierungspotenzial? Welche Dinge, die wir bisher tun oder nutzen, können wir vereinfachen oder sogar weglassen? Schnell war klar: Ein möglichst idealer Workflow ist das beste Entscheidungsraster dafür, welche technischen Systeme benötigt werden. Deswegen haben wir alle redaktionellen Arbeitsschritte in Blöcke eingeteilt und diese bestehenden Systemen zugeordnet. Die Trennung zwischen Online- und Print-Produktion wurde durchbrochen und beides in einer einheitlichen Systematik zusammengeführt. Entscheidungen wurden im Entwicklungsprozess regelmäßig hinterfragt und revidiert, wenn es dafür gute Gründe gab. Gemeinsam mit einem Projektteam aus verschiedenen Bereichen — unter anderem der schreibenden Redaktion, der IT, der Dokumentation, der Techlab, der Bild- und der Schlussredaktion — haben wir Workflows und Anforderungen laufend konkretisiert und auf unsere Bedürfnisse angepasst.

Geplant war, das Haus in regelmäßigen Workshops in den Entwicklungsprozess einzubeziehen und so breites Verständnis und Vertrauen zu schaffen. Doch dann kam Corona. Aus den geplanten Präsenz-Workshops wurden sehr viele virtuelle Einzelgespräche, individuelle Absprachen und Einzelvorführungen, bis sich im Spätsommer 2020 eine erweiterte Projektgruppe zusammenfand, die die Reform zu Ende dachte.

Wir entwickelten keine grundlegend neuen technischen Systeme, sondern nutzen wie schon bei den Online-Umbauten vor zweieinhalb Jahren Standardlösungen, deren Möglichkeiten wir an unsere Bedürfnisse anpassen und sinnvoll ergänzen.

  • Als Basis nutzen wir Statamic als Content Management System, das für alle Kolleg:innen sozusagen zur zentralen Schreibmaschine und Datenbank wird. Sämtliche Inhalte — egal ob für Print oder Online — werden in Statamic geplant, produziert und digital veröffentlicht. Dafür nutzen wir den bestehenden Artikel-Editor, den wir um eine Funktion zur Themenplanung und um eine Produktionssteuerung inklusive Aufgabenmanagement ergänzt haben. Hinzu kamen ein Versionsvergleich und eine Annotationsfunktion, um den Bedürfnissen der Dokumentation gerecht zu werden.
  • Für Artikel, die neben der digitalen Veröffentlichung auch noch gedruckt werden, gibt es eine zusätzliche Print-Produktionsebene aus Adobe InDesign und WoodWing Studio. Die in Statamic fertig produzierten Inhalte können hierfür durch einen simplen Knopfdruck in die Magazinwelt exportiert und dort ins Print-Layout eingepasst werden.

Durch diese Umstellungen herrscht im gesamten redaktionellen Prozess volle Transparenz, von der Entwicklung einer Themenidee über sämtliche Produktionsschritte bis hin zur finalen Veröffentlichung. Jede Kollegin und jeder Kollege kann sehen, welche Themen in Planung sind, von wem sie bearbeitet werden und welchen Bearbeitungsstand sie gerade haben. Änderungen und Anpassungen lassen sich für alle leicht nachvollziehen. Ansprechpartner:innen aus den einzelnen Bereichen sind klar benannt und können sich direkt über die Systeme abstimmen. So kann die Autorin eines Textes sofort sehen, welcher Bildredakteur den Artikel betreut oder wer in der Dokumentation für die Verifikation verantwortlich ist. Wir haben damit einen schnelleren direkten Austausch und insgesamt eine Vereinfachung der Abläufe erreicht. Mit der Chefredaktion entstanden neun zentrale Leitsätze, die die Vorteile der neuen Workflows und Systeme zusammenfassen:

Grundlinien der Reform: Weitreichende Einigung auf die Prinzipien hinter den Systemumbauten

Die Umstellung auf Statamic und WoodWing Studio ist eine wesentliche Investition in die Zukunft — eine zwar nicht für jeden sichtbare, aber essenzielle Modernisierung unserer technischen Basis. Beide Systeme sind auf dem neuesten Stand, arbeiten browserbasiert und liefern damit mehr Flexibilität im täglichen Arbeiten. Sie gewährleisten ein höheres Maß an Stabilität und Sicherheit. Durch geringere Wartungskosten bei Softwarelizenzen sparen wir außerdem Geld, aber noch wichtiger: Die neue Systemwelt ist so aufgestellt, dass jede Komponente autonom weiterentwickelt oder durch ein besseres System ersetzt werden kann, ohne das Gesamtkonstrukt zu hinterfragen.

Rund 800 Kolleginnen und Kollegen haben die neuen Systeme inzwischen kennengelernt und arbeiten damit. Dafür haben wir zwei Monate vor dem Start 80 Botschafterinnen und Botschafter geschult, die ihre Kenntnisse ins Haus getragen haben; wir haben Schulungsunterlagen, -mitschnitte und erklärende Videos bereitgestellt; zweimal pro Woche gab es offene Sprechstunden; die Produktionen der ersten Monate wurden durch internen und externen Support intensiv begleitet. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen und wird es ehrlicherweise vielleicht nie sein. Nach wie vor arbeiten wir in Projektgruppen an der Optimierung der Abläufe und passen Workflows und Systeme bei Bedarf an unsere Anforderungen an.

Nach dem SPIEGEL haben wir auch das manager magazin und den Harvard Business manager auf die neuen Workflows und Systeme umgestellt. Durch die vorher gemachten Erfahrungen und fortwährenden Optimierungen an Prozessen und Technik liefen diese Umstellungen ohne große Überraschungen und nennenswerte Probleme. Alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen haben die ersten Produktionen trotz gerade wieder steigender Infektionszahlen mit Bravour gemeistert. Auch hier wird es Anpassungen und Nachbesserungen geben, um die Abläufe noch reibungsloser zu machen. Alle Erfahrungen werden natürlich im Unternehmen geteilt, sodass davon immer alle profitieren und nicht nur einzelne Bereiche. Nach der Umstellung ist vor der Umstellung: Die Planungen für die weiteren Titel der SPIEGEL-Gruppe (SPIEGEL Geschichte, SPIEGEL Wissen, SPIEGEL Coaching, Dein SPIEGEL) laufen bereits.

Grundlegende Abläufe und technische Voraussetzungen zu verändern war und ist nie einfach, doch aus unserer Sicht sind die Schritte, die wir gegangen sind, notwendig. Trotz der durch die Pandemie deutlich erschwerten Rahmenbedingungen und ohnehin höheren Arbeitsbelastung in weiten Teilen des Hauses, ist es uns gelungen, jede Print-Ausgabe in gewohnter Qualität zu drucken und SPIEGEL.de jeden Tag rund um die Uhr auf höchstem Niveau zu bespielen. Die beeindruckenden Zugriffszahlen und das Gesamtwachstum der Auflage sind Belege dafür, wie gut es funktioniert.

Dass wir all das geschafft haben, ist alles andere als selbstverständlich, eine herausragende Gemeinschaftsleitung des gesamten Unternehmens — und ein wesentlicher Schritt hin zu einer integriert arbeitenden Redaktion, die anderen Häusern in diesem Bereich um Jahre voraus ist.

— SPIEGEL-Team Workflows & Systeme

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