Wie wir den gedruckten SPIEGEL dezent neu gedacht haben
Ein Redesign für ein Magazin wie den SPIEGEL beginnt mit vielen Fragen. Ganz vorneweg: Wie viel Gestaltung darf das größte Nachrichtenmagazin Deutschlands haben, das ja nicht des Designs wegen gekauft wird? Wie begegnet man einer Leserschaft, die den SPIEGEL so gewohnt ist, wie er heute ist: textlastig, informationstark? Ganz grundlegend: In einer Welt, in der wir mehr und mehr digital informieren und Informationen konsumieren — was muss ein gedrucktes Magazin dann noch können? Und wie führt man die Print-Produktion möglichst elegant mit der im Digitalen zusammen, was in diesen Zeiten ja der erste Kanal ist, in dem Artikel publiziert werden?
Vor zwei Jahren haben wir als neue Kreativdirektion im SPIEGEL begonnen, mit dem Anspruch, Optik stärker als erzählerische Form zu nutzen als bisher. Im SPIEGEL war das — anders als zum Beispiel in den Tochtermagazinen — selten wirklich entscheidend gewesen. Deshalb haben wir uns die Zeit genommen, gemeinsam mit der Chefredaktion über angemessene Antworten auf die Fragen nachzudenken. Ein erster Designentwurf von Frances Uckermann war eine Grundlage, den wir dann weiterentwickelt und auf die täglichen Herausforderungen der Produktion angepasst haben.
An diesem Wochenende erscheint der SPIEGEL in der neuen Optik, die in diesem Prozess entstanden ist, und er ist eher als Evolution denn als Revolution zu verstehen. Eine Modernisierung, die nicht alles neu macht, aber vieles besser — das war das Ziel, und die Systematik dahinter hilft auch beim digitalen Storytelling des SPIEGEL.
Das neue Raster unserer Seiten besteht in der Senkrechten aus drei Spalten mit einer optionalen Marginalienspalte dazwischen. Dieses Konstrukt ist eine essentielle Hilfe, um die täglichen Herausforderungen der Produktion mit den optischen Elementen und dem Fließtext besser und schneller zu meistern — vor allem um mit Bildformaten besser spielen zu können, ohne das grundsätzliche Raster zu verlassen. Denn die optionale Marginalie lockert nicht nur mit Weißraum die Seite auf, sondern kann flexibel Elemente aufnehmen, auch aus umliegenden Spalten. Dadurch bekommen wir mehr mögliche Größen für optische Elemente innerhalb des Standardrasters und müssen dieses nicht gleich grundsätzlich aufbrechen, um zum Beispiel einem Foto gerecht zu werden, das zweispaltig zu klein wirken würde, dreispaltig aber zu groß, oder auch einspaltig zu groß, weil es nur ein kleines Porträt ist. Hier wurden im alten Layout viele Kompromisse gemacht, die das Magazin unrund wirken ließen.
In der Waagerechten folgen unsere Bilder künftig Hilfslinien. Diese wirken mit gleichförmigen Höhen einheitlich und ausgewogen im ganzen Magazin und standardisieren so die Gestaltung noch zusätzlich, ohne dass das Layout dadurch langweilig wirkt. Grundsätzlich sind wir im Raster deutlich enger geworden, haben Weißraum in allen Bereichen verringert und lassen Linien überall dort anschließen, wo sie sich begegnen. Das neue Layout bringt am Ende sogar etwas mehr Platz für Text als das bisherige.
Die Typografie ist beim SPIEGEL seit langem markant, darum sind wir beim klassischen Schriftkoffer des Magazins geblieben. Die Headline ist einen Schnitt fetter, um einen stärkeren Schwerpunkt auf den Seiten zu schaffen — und ansonsten haben wir die Vielfalt an Schriftgrößen reduziert. Standard-Geschichten kommen zum Beispiel mit einer einzigen Headline-Typo aus, können dafür aber je nach Inhalt in verschiedenen Breiten und Längen variieren, um weiter Spannung im Heft aufzubauen.
Das 80/20-Prinizip: Zur Frage, wie viel Gestaltung der SPIEGEL als Nachrichtenmagazin wöchentlich braucht, haben wir uns eine Faustregel überlegt. Künftig werden gut 80 Prozent der Geschichten nach dem standardisierten Layout funktionieren — da bleiben wir typografisch in unseren definierten Räumen, bedienen uns an den Vorgaben des neuen Rasters. Die übrigen 20 Prozent der Geschichten werden dagegen entlang der grundlegenden Leitlinien nochmal neu designerisch interpretiert. Hier gibt es im prinzipiell keine Vorgaben, wir sind farblich und typografisch völlig frei. Hier geht es um die besonderen Geschichten, die großen Themen mit starken Bildern, die eine herausragende Optik verdienen.
Dieses Prinzip lässt sich im Übrigen auch auf digitales Storytelling übertragen. In dem Relaunch vor mehr als einem Jahr haben wir die Anlagen dafür geschaffen, um zwischen Print- und digitaler Produktion anders zusammenzuarbeiten als lange üblich. Das Ziel ist, zuerst in Themen statt Kanälen zu denken und gerade für die großen Geschichten das Storytelling in beiden Kanälen gleichberechtigt und gleichzeitig zu konzipieren. Der Relaunch jetzt schafft dafür eine weitere Voraussetzung, mit einerseits starker Standardisierung, andererseits gewissem Raum für besondere Erzählweisen.
Die neuen Infografiken in der überarbeiteten Gestaltung sollen beim tiefen Verständnis von Themen unterstützen. Sie sind ein Kern modernen Storytellings. Gut gestaltete und inhaltlich relevante Infografiken werden im neuen Design deshalb wichtiger — und aus rein gestalterischer Sicht zeitgemäßer, mit neuer Farbpalette und einer markanten Aufhängung, um sie harmonischer im Layout zu verankern. Das neue Raster hilft auch hier, um sie intelligenter einzubauen, variabel in Breite und Größe sowie ganz nach inhaltlichen Belangen. Auch Grafiken funktionieren in der neuen Produktionslogik immer sowohl für Print als auch digital.
Das Cover des SPIEGEL ist ikonographisch: weißer Rahmen auf rotem Grund, oben der Schriftzug, darunter ein markantes Motiv zu unserem Thema der Woche. Schon in den vergangenen Monaten haben wir hier Kleinigkeiten verändert — zusätzliche Anreißer aufgenommen, die Typographie harmonisiert, aber nie so, dass sich der Grundcharakter verändert. Das ist auch nach dem Redesign der Fall. Wir haben nach längerer Debatte entschieden, den Schatten hinter dem SPIEGEL-Schriftzug zu tilgen, nachdem wir von den Erfahrungen auf unserer relaunchten Webseite wissen, dass die Marke so etwas zeitgemäßer wirkt; und wir haben den weißen Rahmen ein kleines bisschen schmaler gemacht, um dem Bild zu mehr Geltung zu verhelfen. Das war’s, denn zu viel Neuerung würde hier verstören.
Die neue Gestaltung wurde monatelang in einer Art Designlabor konzipiert. Dass sie für unsere Leser:innen grundsätzlich funktioniert, wissen wir seit vergangenem Herbst, als wir schon mal unsere Klima-Sonderausgabe in der neuen Optik gebaut und an die Kioske und alle Abonnent:innen geschickt haben — und nicht nur kein negatives Feedback bekamen, sondern viel positives.
Nun geht es darum, das Konzept dem Realitätstest zu unterziehen und jede Woche aufs Neue mit Leben zu füllen. Denn Gestaltung ist für uns auch in Zukunft vor allem einem verpflichtet: dem Inhalt. Wir wollen nicht zum Selbstzweck gestalten, sondern unseren Geschichten zur passenden Optik und Opulenz verhelfen, die sie inhaltlich verdienen.
In diesem Sinne ist die Überarbeitung ein weiterer Entwicklungsschritt in der Modernisierung des SPIEGEL, wie zuletzt die Integration unserer Apps in eine einzige App oder im Sommer eine grundlegende technische Reform unserer Produktionssysteme. Dann werden Print- und digitales Produktionssystem grundlegend neu verwoben, was nicht zuletzt in der Gestaltung am Ende zum Prinzip “Digital First” führen soll — ohne Print zu vernachlässigen. Wofür explizit auch das Redesign dieser Woche steht.
— Creative Direction des SPIEGEL