Gutes lesen, mehr verstehen — wie wir das neue SPIEGEL+ entwickeln.
Zum Phänomen der Betriebsblindheit finden Betroffene langweilige oder kurzweilige Wikipedia-Einträge, reichlich Management-Literatur und gefühlt noch mehr Coachingansätze. Dabei reicht ein Blick auf diesen populären Comic. In den vergangenen Monaten haben wir beim SPIEGEL gar nicht erst versucht, Raketenwissenschaft zu betreiben, auch nicht als Sparversion, sondern getan, was das letzte Bild des Comics nahelegt: auf Nutzer gehört. Deshalb erfinden wir gerade unser digitales Bezahlmodell neu.
In diesem Devblog wollen wir Einblicke darin geben, wie wir unsere Produkte weiterentwickeln; geschäftlich, strategisch, technisch, inhaltlich, was immer für die Branche interessant sein könnte. Das neue SPIEGEL+, das vermutlich bis zur Ferienzeit an den Start gehen wird, ist nach Jahren des Experimentierens das beste Beispiel dafür, wie wir dabei künftig vorgehen und unsere Leser im Blick halten wollen. Ein Blick in die Werkstatt, der auch eine Aktion gegen Betriebsblindheit ist — aber dazu am Ende.
Die deutsche Diskussion über digitale Bezahlmodelle für Medien verlief jahrelang erratisch, wenn man es kritisch ausdrücken will — aber wieso sollte man? In einer Zeit, in der Fail faster, fail forward zum Mantra einer neuen Experimentierkultur wird, kann man die Ansätze verschiedener Medien auch als Forschung am lebenden Objekt lesen und damit als Erfahrungsschatz. Wir selbst haben dazu beigetragen, mit der aktuellen Trias aus digitalem SPIEGEL-Abo, Einzelartikel-Verkauf via SPIEGEL Plus und der Digitalzeitung SPIEGEL DAILY. Unsere Erfahrungen mit Bezahlmodellen sind vielfältig — und ein spannender Startpunkt für das neue SPIEGEL+.
- Das digitale SPIEGEL-Abo wächst seit Jahren, kommt aber allmählich an seine Grenzen. Die Zielgruppe sind Fans des gedruckten Magazins, die kein Papier mehr haben wollen (etwa die Hälfte der rund 65.000 Digitalbonnenten) oder aber neben dem Papier auch die digitale Variante möchten (zusammen mit rabattierten Testabos die andere Hälfte). Vielen Lesern einer Nachrichtenseite erschließt sich der Zweck eines solchen digitalen Magazin-Abos nicht; die Werbeflächen auf unserer Homepage, die in das digitale Magazin führen, sind nicht unbedingt die effektivsten Anzeigen, um es so zu formulieren.
- SPIEGEL Plus ist das vielleicht experimentellste Bezahlsystem im deutschsprachigen Markt. Leser bekommen exklusive 39-Cent-Artikel auf der Nachrichtenseite angeboten und außerdem fünf Euro auf einem virtuellen Bierdeckel gutgeschrieben — erst wenn dieses Guthaben aufgebraucht ist, bezahlen sie wirklich. Die Erfahrungen mit diesem Modell des Dienstleisters LaterPay sind wertvoll. Wir verdienen inzwischen je nach Performance der Einzeltexte rund 50.000 Euro pro Monat. Das reicht zwar bei weitem nicht, um unsere Redaktionen zu finanzieren, weshalb wir das Modell ablösen werden, aber wir haben mit seiner Hilfe drei Dinge gelernt. Erstens hat es der Reichweite unserer Webseite nicht geschadet. Paid Content muss Leser nicht verprellen, auch wenn das mancher noch immer glaubt. Zweitens haben wir gelernt, dass selbst in diesem System, das auf Einzelartikel-Verkauf setzt, die ebenfalls angebotenen 3,90-Euro-Wochenpässe mit am stärksten gewachsen sind. Flatrate-Modelle kommen bei Nutzern also durchaus an (woran wir angesichts Netflix, Spotify etc. allerdings eh keinen Zweifel mehr hatten). Drittens wissen wir nun aus den Performance-Statistiken der Einzelverkäufe, für welche Texte aus welchen Themenbereichen unsere Leser gerne bezahlen: nämlich Gesellschaft und Geld, Familie und Partnerschaft, Gesundheit und Wissen, Wohlbefinden und Crime, Leben und Job etc. Also eher Magazin- als Nachrichtenstoff. Noch aufschlussreicher ist, was die verkaufsstärksten Geschichten gemeinsam haben: Aha- und emotionale Momente, Nähe zu Menschen und Einblicke in Unzugängliches, gute Thesen und verständliche Schreibe.
- Bei SPIEGEL DAILY hat sich dasselbe Schema bewährt. Die digitale Abendzeitung, die werktäglich auf unserer Nachrichtenseite angeboten wird, bekommt immer dann reichlich neue Abos, wenn sie mit solchen Geschichten angeteasert wurde — oder mit prominenten Kolumnisten wie Harald Schmidt und Sophie Passmann. Etwas mehr als 5000 Abos im Monatsschnitt haben wir für dieses 6,99-Euro-Angebot gewonnen, obwohl es sich eigentlich um eine Nachrichtenseite innerhalb einer Nachrichtenseite handelt. Eine Konstruktion, die nach dem gesammelten Leserfeedback des ersten Jahres so unlogisch ist wie der Umstand, dass wir zu ein- und demselben Thema öfters künstlich zwei Geschichten schreiben: einen elaborierten Text für unsere Haupt-Nachrichtenseite und einen mindestens so elaborierten für DAILY. Uns ist klar geworden, dass wir da ran müssen — aber wir haben auch gelernt, dass die ursprüngliche Idee dieses Produkts eigentlich funktioniert. “Einmal täglich die Welt anhalten”, hat das Team um DAILY-Erfinder Cordt Schnibben als Leitspruch postuliert, und den damals erkannten Bedarf gibt es offensichtlich. Leser, die nicht den ganzen Tag bei uns die News verfolgen können, freuen sich, wenn sie irgendwann ab 17 Uhr einen guten Überblick bekommen. Das ist vermutlich der wesentliche Grund, weshalb es heute noch Tageszeitungen gibt. Uns ist klar geworden: Wenn wir jetzt unser Bezahlsystem überarbeiten, werden wir diesen Use Case weiter abdecken, die Weltlage abends einmal übersichtlich zu sortieren und unseren Lesern gesammelt anzubieten.
Diese Erfahrungen im Hinterkopf, haben wir uns zu Jahresbeginn auf das KISS-Prinzip der Produktentwicklung besonnen. Das Kürzel steht für Keep it simple and stupid — siehe der Comic oben: Bitte nichts Unnötiges anbieten. Bisher stehen drei Bezahlangebote zusammenhangsarm nebeneinander; für uns bilden sie eine eher experimentelle Paid-Content-Phase der vergangenen Jahre ab. Jetzt sollen sie in einem für Leser logischen System vereint werden, das ihre Bedürfnisse besser befriedigt.
Das Schema zur Nutzergruppen-Typologie des neuen SPIEGEL+, das Sie hier sehen, ist in einem Workshop entstanden, in dem wir uns Anfang Januar mit den vier größten Intensivleser-Gruppen unserer Nachrichtenseite befasst haben. Die Einteilung der Typen kommt aus der Werbemarktforschung. Doch wenn man die Bedürfnisse der vier Gruppen mit den Erfahrungen aus unseren bisherigen Bezahlmodellen kombiniert, dann ist man rasch bei einer zentralen These, was bei unseren loyalen Lesern wirklich Bezahlbereitschaft auslöst. Es geht diesen Nutzern keinesfalls um ein Mehr an Texten — es geht darum, sich herausragende Texte zu leisten, die deutlich mehr bieten als das übliche Informations-Einerlei im Netz (dessen diese Leser überdrüssig sind). Sie wollen weniger lesen. Dafür aber Gescheites.
“Gutes lesen, mehr verstehen”: Dieser Leitspruch stand im Januar am Ende vieler Iterationen als Angebotsversprechen für unser neues SPIEGEL+. Wir waren danach noch unsicher. Als dann ein paar Wochen später in Nutzerpanels und Leserumfragen die Erwartungen an unsere Marke genauer erforscht wurden, fielen zur Zahlbereitschaft ständig Sätze wie die folgenden, und wir wussten, wir sind offensichtlich auf der richtigen Spur:
“Ich leiste mir das dann. Ich will am Wochenende was Gutes lesen.”
“Ich kaufe mir das nicht für den schnellen Überblick. Ich will da was verstehen.”
Aus drei mach eins: In vielen Gesprächen mit Lesern haben wir erfahren, dass unsere bisherige Produkt- und Angebotskonstruktion eher verwirrt, als dass sie durch Vielfalt die verschiedensten Zielgruppen individuell anspricht. Dazu kommt, dass die vielen Preise von Einzelartikeln, mehreren Wochenpässen und Monatsabos verwirren. Die bisherigen Angebote wurden preislich nicht zwingend als logisch empfinden, alle zusammen aber als unlogische Struktur. Unsere Herausforderung auch hier: Keep it simple.
Am besten also ein Preis — aber wie hoch? Ein Paid-Content-Vergleich der deutschen Qualitätstitel macht klar, dass nicht die Netflix-Spotify-Flatrates um zehn Euro den Wettbewerb bestimmen, sondern deutlich höhere Preise, die teils aus Print abgeleitet sind. In der Branchendiskussion gilt dies oft als Fehler, weil die Angebote zu teuer seien für die breite Masse, und dennoch zeigen die ersten Jahre digitaler Abo-Modelle in Deutschland: Bei den meisten Titeln wachsen die IVW-gemeldeten Auflagen deutlich — Digitalabos sind meist als E-Paper repräsentiert — , und entsprechend wachsen die Erträge. Zwar kann man Auflagen und Preise nicht 1:1 multiplizieren, weil rabattierte und Print-Digital-Kombi-Angebote in der Auflage enthalten sind, teils bis zur Hälfte wie bei uns. Aber klar ist: Für alle Titel sind simpel gestrickte digitale Abo-Modelle inzwischen der wichtigste Wachstumsbringer.
Unsere Nachrichtenseite wiederum ist deutlich größer als die der anderen Qualitätstitel, respektive: Sie hat loyalere Leser. Das sind beste Voraussetzungen für ein ähnlich einfaches Abomodell, das die guten Erfahrungen unserer Wettbewerber nutzzt.
Eine Flatrate für alles Digitale vom SPIEGEL: Als wir im Februar unsere Vorarbeiten abgeschlossen hatten, war klar, dass wir mit einem All-inclusive-Preis von 19,99 Euro pro Monat starten werden. Dafür bekommen Nutzer wirklich alles: exklusive Texte auf der Nachrichtenseite, ein tägliches Daily-Update (an sich gratis, aber mit einzelnen Paid-Texten), das ganze wöchentliche Magazin als Wochenendlektüre — und das zu einem Preis, der im Markt am unteren Rand liegt. Außerdem hatten wir eine besondere Idee für eine besondere Zielgruppe: Für alle unter 30, die bekanntlich noch nicht so viel verdienen, wird SPIEGEL+ nur 11,99 Euro pro Monat kosten.
Seit Februar haben wir dieses Konzept in vielen kleinen Runden mit Experten und Nichtexperten, also einfachen Nutzern beredet und getestet, und wir haben es an vielen Stellen immer wieder justiert.
Der Titel “Daily” etwa wird erhalten bleiben, mit Kolumnisten wie Harald Schmidt; aber eben nicht als eigenständiges Produkt DAILY, sondern als Push-Angebot unserer Nachrichtenseite für Apps, Messenger und Newsletter. Wir haben gelernt, dass sich diese Darreichungsformen für den Use Case “Einmal täglich die Welt anhalten” besser eignen dürften als ein eigenständiges Produkt. Wir haben außerdem gelernt, dass es ein neues Logo für den Neustart von SPIEGEL+ brauchen wird, damit Leser den Unterschied halbwegs garantiert bemerken; dass viele Beschreibungen unserer Produkte, die wir selbstverständlich für verständlich halten, bei Lesern nur Fragezeichen entstehen lassen; dass man Erklärseiten zwar sehr ästhetisch machen kann, sie dann aber verkäuferisch schlechter ankommen, oder auch das Gegenteil davon; dass… — so kann man lange weitermachen.
Simple and stupid ist nie simpel. Einfache Produkte sind einem alten Lehrspruch zufolge immer am schwierigsten zu designen, aber für SPIEGEL+ gilt das besonders, unter anderem,
- weil in diesem Angebot alle bisherigen digitalen Bezahlangebote aufgehen — was einen technischen und gestalterischen Umbau bedeutet, der seit mehr als einem Jahr vorbereitet wurde;
- weil die Redaktionen der Nachrichtenseite und des wöchentlichen Magazins in Zukunft faktisch in einem gemeinsamen Geschäftsmodell mit anteiliger Anzeigen- und Leserfinanzierung arbeiten, was integriertes Arbeiten an den Themen ermöglicht und nötig macht;
- weil eine solche Reform des Geschäftsmodells eine kreative Kollaboration fast aller Bereiche unseres Hauses nötig macht.
Die Redaktionen und der Vertrieb, die klassische IT und unser Techlab, das Produkt- und das Projektmanagement, die Art Directionen und das Marketing, die Chefredakteure und die Geschäftsführer — die Zusammenarbeit Dutzender Kollegen haben wir seit Jahresbeginn mit agilen Methoden so organisiert, dass in wenigen Monaten Innovationen entstanden sind, die auf traditionelle Weise deutlich länger brauchen.
Weil es so umfassend gedacht ist, wird SPIEGEL+ tiefer in die Produktarchitektur des SPIEGEL eingreifen, als es die bisherigen Bezahlmodelle taten. Es bedeutet zum Beispiel den Ausbau des Digitalvertriebs zum E-Commerce-Team; es bedeutet den Aufbau von Textmarketing als journalistisch-geschäftliche Zwischenposition; es bedeutet eine neue Reichweitenlogik, die loyale Leser ins Zentrum nimmt; es bedeutet neue Produktionslogiken etwa für das wöchentliche Magazin, dessen Artikel nun — wenn sinnvoll — völlig unabhängig vom Andruck digital präsentiert werden könnten: um bestehende Abonnenten früher zu versorgen oder neue Abonnenten zu werben. Der ganze SPIEGEL wird Teil von SPIEGEL+, dazu zusätzliche exklusive Texte, mit denen wir kreativ umgehen und wichtige Erfahrungen machen werden. So viele Veränderungen, so viele Chancen. Die alte Branchendiskussion, ob das klassische Reichweitenmodell im Netz und Paid-Content-Ansätze überhaupt zu vereinbaren sind, ist endgültig obsolet geworden. Beides gehört zusammen; mit Bezahlmodellen monetarisiert man eine möglichst große Reichweite einfach noch mal anders.
Mehr verstehen, Gutes bieten: So könnte man das Leitmotiv von SPIEGEL+ abwandeln, wenn man an die Folgen für unsere internen Abläufe denkt. Denn alle Kollegen in Redaktion und Verlag können künftig besser als bisher nachvollziehen, was unsere Leser interessiert, was sie vom SPIEGEL wollen. Wir werden viel analysieren, entsprechend iterativ haben wir das Projekt angelegt — das dadurch eigentlich kein Projekt mehr ist, sondern ein dauerhafter Entwicklungsstrang.
Wie viele unserer mehr als 20 Millionen Unique User erreichen wir mit SPIEGEL+ genau? Finden sie sich zurecht? Ab wann ist unsere Nachrichtenseite überfüllt mit SPIEGEL+? Und umgekehrt, wie voll muss sie damit sein, so dass unser Premium-Angebot ausreichend auffällt? Von welchen Themen erwarten Leser noch mehr? Würden sie die Kompaktform S+ besser finden? Wie kommt das neue Daily bei ihnen an? Brauchen wir später womöglich doch differenziertere, niedrigerschwellige Angebote? Wie funktioniert das Upselling beim neuen Print-Kombipaket mit 24,99 Euro? Und wie bei der Hochpreis-Variante mit unterschiedlichen parallelen Abos für unsere Nebentitel SPIEGEL GESCHICHTE, WISSEN, BIOGRAFIE etc., die es erstmals komplett als digitale Varianten geben wird?
Wir haben im März begonnen, sowohl die kurzfristigen Fragen für die Zeit nach dem Start zu notieren als auch weiterführende Konzepte, die man später testen sollte. So, wie wir jetzt einen wichtigen Schritt nach der Trias Digitalabo/Plus/DAILY machen, werden noch weitere wichtige Schritte folgen. Für SPIEGEL+ haben wir haben gerade erst die Starteinstellung definiert — das ist das Selbstverständnis im Team.
In diesen Wochen bereiten sich alle Abteilungen auf den Start vor, die letzten Komponenten werden programmiert, dann getestet. Die Ambition hinter dem neuen SPIEGEL+ ist keine geringe: Es geht darum, der SPIEGEL-Gruppe eine nachhaltige wirtschaftliche Perspektive mit mehr als dem traditonellen Print-Geschäft und dem rein anzeigenfinanzierten Online-Geschäft zu geben. Natürlich gibt es Businesspläne, natürlich wollen wir im kommenden Jahr den Break-even, aber abseits dieser Absichtserklärungen wissen wir nur ein paar Dinge sicher: Alle werden mitmachen müssen; es wird viel Arbeit sein, bis es wirklich richtig funktioniert; es muss funktionieren, um die Unabhängigkeit des SPIEGEL dauerhaft zu sichern; und am Ende wird das eben nur zusammen mit unseren Lesern gelingen — denen wir ja kein Bezahlmodell einfach aufdrücken können, sondern die hoffentlich nachvollziehen können, dass Journalismus etwas wert ist.
Deshalb ist trotz aller Tests, Gespräche, Umfragen und Marktforschungen, die wir schon unternommen haben, jetzt die beste Gelegenheit, von einem breiteren Publikum Rückmeldungen zu bekommen, um die berühmte Betriebsblindheit zu verhindern. Nachdem Sie, liebe Leser dieses Blogs, vermutlich auch Leser unserer Marke sind: Was halten Sie von unserem Konzept? Und was wollen Sie uns noch mitgeben?
Wir freuen uns auf Ihre Anregungen, auf Ihre Kritik und Ihre Wünsche:
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— 23. April 2018, vom Team von SPIEGEL+