Eine Marke, eine App: Warum wir unsere digitalen Hefte in die Nachrichten-Apps integrieren

DEV SPIEGEL
8 min readMar 15, 2021

Etwas mehr als ein Jahrzehnt ist es her, dass Apple mit dem iPad eine neue Dimension digitaler Medien zu eröffnen schien. Steve Jobs präsentierte ein neues Gerät am Sweetspot zwischen Computer und Handy: leistungsstark, aber mit den Fingern zu bedienen; angenehm groß, aber zum Mitnehmen; im Internet zu Hause, aber eigentlich wie ein Blatt Papier. Gerade letzterer Aspekt schien Verlagen wie eine Rettung, doch noch bezahlte Produkte in der digitalen Welt einführen zu können. Nachdem das iPad im Format eines handlichen Magazins daherkam, brachte auch der SPIEGEL erstmals eine digitale Ausgabe seines gedruckten Magazins zum Kaufen aufs Tablet.

Die erste iPad-Ausgabe des SPIEGEL

Gerade im deutschsprachigen Medienmarkt ist es seither üblich, dass jede Marke zweierlei Apps anbietet: eine für die Nachrichten-Webseite, eine andere für ein Abbild des gedruckten Produkts. Es war ein Jahrzehnt des experimentellen Nebeneinanders. In diesem Jahrzehnt haben auch wir viel über Verhalten und Vorlieben von Nutzer:innen gelernt:

  • Sich schnell informieren auf der einen Seite, tiefer eintauchen in Themen auf der anderen: Diese zwei sehr unterschiedlichen Nutzungsmodi werden von einem Medium wie unserem tatsächlich nachgefragt. Die Magazin-Apps („SPIEGEL Kiosk“ und die entsprechenden manager-Apps) wurden zwar immer von deutlich weniger Menschen genutzt als die Nachrichten-App, nämlich nur Zehntausenden statt Millionen, aber dafür intensiver, leidenschaftlicher. Kein Wunder, wer für ein Produkt bezahlt, nutzt es auch lieber (und umgekehrt). Seit wir in den vergangenen zwei Jahren unsere neuen Abomodelle SPIEGEL+ und manager+ eingeführt haben, ist auch die Nutzung der Magazin-App noch mal deutlich gewachsen.
  • Wettbewerb ums Wochenende: Die Magazin-App des SPIEGEL fordert Zeit zum Lesen, und diese Zeit hat man eher am Wochenende als unter der Woche. Genauer: ab Freitag Büroschluss. In diesem Jahr haben wir begonnen, die wöchentliche Ausgabe immer schon ab 13 Uhr statt 18 Uhr bereitzustellen, damit man sie lesen kann, sobald man auf dem Heimweg ist. Die Nutzung gab uns Recht — Leser:innen wollen zur Lesezeit am Wochenende möglichst aktuell möglichst tiefen Stoff, und dafür liegen wir mit unserem Produktionszyklus genau richtig. Ähnliches gilt monatlich für manager magazin und Harvard Business manager.
  • Gute Texte sind genug: Mit dem Start des iPad kam in der Medienbranche die These auf, Leser:innen würden erwarten, dass die multimedialen Möglichkeiten der Geräte großflächig genutzt werden. Tatsächlich ist dem nicht so. Zu Jahresbeginn haben wir entschieden, Geschichten in der Magazin-App des SPIEGEL nur noch dann aufwändiger zu produzieren, wenn es das Thema gebietet, und nicht mehr für eine bestimmte Zahl von Artikeln. Auch auf QR-Codes in der gedruckten Ausgabe verzichten wir, die auf aufwändiger produzierte digitale Versionen verwiesen. Kritik daran gab es kaum. Für uns liegt der Schluss nahe, dass man sich eine richtig gut produzierte Geschichte zwar sicher merkt. Eine gute Geschichte an sich reicht aber auch, gerade wenn man bei der Produktion eigentlich nur l‘art pour l‘art machen würde.
  • Offline wird überschätzt: Viele Magazin-Apps sind technisch so aufwendig, weil sich die These hält, dass Leser:innen die digitalen Ausgaben herunterladen wollen. Entsprechend wurde die Kiosk-Artigkeit der Magazin-Apps von Beginn an forciert, sie wurden ganz anders aufgebaut; bei uns wurde sogar eine eigene CMS- und Produktionslösung gebaut, die mit der Online-Seite nur eine Schnittstelle teilt — und für jene Texte, in denen aufwendige Produktion mit modernen Online-Mitteln sinnvoll wäre, diese Möglichkeiten nicht bieten kann. Tatsächlich sehen die Nutzungszahlen aber anders aus. Die allerallermeisten lesen unsere Magazin-App im WLAN. Nur rund zwei Prozent der Nutzungen erfolgen offline. Und durch den Ausbau von 4G, 5G und WLAN in Flugzeugen werden sich die Zahlen noch weiter verschieben.
  • Print-Online-Identität reicht nach Pareto-Prinzip: Eine Magazin-App muss natürlich die großen Geschichten beinhalten, die es in Print gibt — aber es wird nicht jede kleine Nachrichtenmeldung aus dem Heft erwartet, zumal wenn sie ohnehin auf der Nachrichten-Webseite steht. Man kann also kleinere Texte weglassen, sinnvolle Texte hinzufügen, Artikel aktualisieren oder Langversionen von Interviews präsentieren, was immer dem digitalen Medium angemessen ist. Leser:innen überprüfen das alles sehr selten, und sie beschweren sich nur, wenn sie Angekündigtes nicht oder nicht wie erwartet finden.
  • Querverwertung schadet nicht: Seit Monaten publizieren wir große, exklusive Geschichten aus dem SPIEGEL und manager magazin nicht mehr erst am Erscheinungstag, sondern teils schon deutlich vorher als Abo-Stücke auf der Homepage — etwa dann, wenn das Interesse an einem Thema anschwillt. Außerdem können wir so unsere digitalen Bezahlangebote pushen. Ein solches Vorziehen von Texten galt in der Branche lange als riskanter Schritt, weil Leser:innen der gedruckten Ausgabe sich wundern könnten, dass sie im Magazin einen Text finden, der schon vor Tagen auf der Webseite stand. Bei Investigativ-Magazinen wie SPIEGEL und manager magazin kommt hinzu: Besteht das Risiko, dass unsere Geschichten durch die Veröffentlichung in den Folgetagen nachrichtlich so weiterdrehen, dass unsere Heft-Abonnent:innen dann eine veraltete Geschichte bekommen? Tatsächlich gab es von unseren Nutzer:innen bei beiden Titeln bislang nie Beschwerden. Unsere Lehre: Wer ein Abo bei uns kauft, ob in Print oder Digital, versteht schon, dass damit vor allem guter Journalismus finanziert wird, egal auf welcher Plattform. Erscheinungszeitpunkte von Texten beschäftigen eher uns intern.

Als wir vor einigen Monaten begonnen haben, über einen Relaunch unserer Magazin-Apps nachzudenken, haben uns diese Erfahrungen zunächst zu einer ersten, grundlegenden, aber letztlich simplen Schlussfolgerung verholfen. Wir sehen keinen Sinn mehr in eigenen Magazin-Apps. Wir sehen im Gegenteil Sinn in einer ganzheitlichen Markenlogik, die an einem zentralen Ort — der einen App der jeweiligen Marke — den verschiedenen Nutzungsbedürfnissen von Leser:innen ihren Raum gibt. Leser:innen wollen zum Wochenende Lean-back-lesen, was die Woche über wichtig war und was kommende Woche wichtig wird. Also bekommen sie künftig in derselben Umgebung, in der sie auch aktuelle News vom SPIEGEL finden, ein In-App-Magazin, das auf dem Urgedanken des Print-Heftes als Nachrichtenmagazin basiert, diesen Gedanken aber konsequenter in den digitalen Nutzungsmodus transferiert. Und zwar eben immer freitagmittags dort, wo die meisten Leser:innen ohnehin sind: in der Nachrichten-App, die jeden Tag Millionen nutzen. In ersten beiden Reitern der App minutenaktueller Journalismus für die Information jetzt gerade, daneben in der Mitte das „Was Sie zum Wochenende wissen müssen“-Magazin zum Tiefertauchen: Die beiden Nutzungsmodi sind künftig nur noch ein paar Pixel voneinander entfernt und nicht mehr Welten im App Store. Genau dasselbe lässt sich auch auf unsere Wirtschaftsmarken manager magazin und Harvard Business manager übertragen.

Möglich macht das alles eine moderne technische Architektur, die die Anforderungen einer Live-Seite und einer downloadbaren Ausgabe zusammenführen kann. Möglich macht es aber auch die Einsicht, dass Marke wie unsere möglichst unkompliziert umfassend nutzbar sein sollten. Es ist schwer genug, eine App erfolgreich im App Store zu platzieren; zwei sind eine zu viel, gerade für Leser:innen, die sich um unsere Produktwelten wenig Gedanken machen wollen. Wenn sie das digitale Magazin schlicht nicht kennen, weil sie im App Store nie nach weiteren Apps des SPIEGEL suchen würden oder weil sie eine reine Abo-App nie installieren würden — dann muss das Magazin mit seinen Attraktionen näher zu ihnen kommen.

Auf der Basis dieser Entscheidung fielen uns viele weitere Schlussfolgerungen für den Relaunch leichter. Künftig werden wir jeden Text nur noch einmal digital produzieren, für die News-Seite und das Magazin zugleich, und das immer so multimedial, wie es das Thema nahelegt, also manchmal gar nicht, manchmal sehr. Wir werden einige Texte je nach aktueller Lage vorab auf der Nachrichtenseite präsentieren, und dann jeden Freitag in die wöchentliche digitale Ausgabe einbauen, gegebenenfalls aktualisiert, gekürzt oder auch unverändert, und die Texte natürlich auch drucken, alles so, wie immer es Sinn ergibt. Bei jedem dieser Texte wird es sich vom Charakter her um Magazin-Texte handeln. Aber sie hängen nicht davon ab, ob sie im gedruckten Magazin erschienen sind. Magazin-Texte in diesem Sinne sollen schlicht die digitalen Produkte bereichern, ob Live-Seite oder Wochen- bzw. Monatsausgabe, und das gedruckte Produkt natürlich auch. Diese crossmediale Themendenke steht im Hintergrund des App-Relaunchs wie auch im Hintergrund anderer Reformen in unseren Redaktionen. Am Ende geht es darum, ein Magazin wirklich digital zu denken — und natürlich um gute Geschichten.

Die Ästhetik des neuen Magazin-Reiters nimmt noch Anleihe an die gedruckten Hefte: der markante Rahmen etwa beim SPIEGEL, immer ein prägnantes Cover, dazu der prägnante Schriftzug. In jeder Marktforschung lernen wir wieder, wie wichtig diese Erkennungszeichen sind, und sie haben uns schon beim Relaunch unserer Nachrichtenseiten von SPIEGEL und manager-Gruppe Orientierung gegeben. In der weiteren Struktur der digitalen Ausgaben folgen wir dagegen dem Designsystem, das wir für unsere Nachrichtenseite entwickelt haben und das sich bei Leser:innen inzwischen bewährt hat; außerdem haben wir Anzeigen reduziert.

Leser:innen wünschen sich in einer App vor allem eine konsistente Nutzerführung, ist unsere Erfahrung. Darum gibt es nun keinerlei spezielle Gestaltungsspielereien mehr, um sich im Magazinbereich besonders von der Webseite abzuheben, im Gegenteil — es gibt vielmehr drei praktische Funktionen, die wir auf Nutzer:innenwunsch neu gebaut haben.

  • Für Randfälle gibt es immer noch eine Offline-Version, die kompakt sein und schnell laden soll und deshalb nicht alle komplex produzierten Geschichten 1:1 übernimmt, zum Nutzen von Speicher und Geschwindigkeit.
  • Für Freund:innen der klassischen Magazin-Ausgabe gibt es ein E-Paper als PDF, das nun direkt am Cover leichter zu finden ist, wie auch die Offline-Version…
  • …und beim SPIEGEL das komplette Magazin jede Woche zum Anhören — diese Feature-Neuerung ist zwar derzeit noch in Arbeit, wird aber in den kommenden Monaten im Rahmen eines neuen Audio-Angebots ausgerollt, das wir aus unserem VAMP-Projekt (Link) der Google-DNI-Förderung heraus entwickeln. Begleitend wird es in der App eine neue Audiothek geben, die das Hören des Magazins besonders leicht und übersichtlich macht und im Nutzungserlebnis wie ein guter Podcatcher funktioniert.

Wir sind gespannt, wie gut diese Neuerungen angenommen werden — vor allem hinsichtlich der neuen Audio-Angebote. Tatsächlich ist der Audio-Markt heute ähnlich dynamisch, wie damals Medienhäuser auf die iPad-Einführung reagierten. Ob Audio ein Geschäftsfeld für Verlage wird, wird sich im kommenden Jahrzehnt zeigen. Nur dass man dafür eine eigene App braucht, können wir jetzt schon ausschließen.

Das Update für die Apps erscheint am Dienstag, 16. März 2021.

--

--

DEV SPIEGEL

DER SPIEGEL × Devblog. Wie wir unsere Produkte weiterentwickeln, was wir dabei lernen.